Wind ist aufgekommen. So vier bis fünf Windstärken wehen aus Nordwest, streichen lang über die Nordsee und bauen dort eine merkbare Welle auf. Das muss mich nur bedingt interessieren: Ich fahre heute von Norderney (siehe letzte Geschichte „Sorry, wir werden nicht warm miteinander“) nach Emden und halte mich nur im Watt und später auf der Ems auf. Alles geschützte Gewässer, mit Seegang werde ich da kaum zu tun haben.
Außer im Seegatt. Das ist die Enge zwischen Norderney und Juist. Bei jeder Tide läuft da eine Menge Wasser vom Watt zur Nordsee oder umgekehrt, da kann also mächtig Strom stehen. Wenn beispielsweise ein frischer Nordost weht, und gleichzeitig das Wasser vom Watt zur See läuft, baut sich in diesem Bereich schnell eine sehr steile und bemerkenswert hohe Welle auf. Den frischen Nordost habe ich heute. Ablaufendes Wasser aber nicht.
Noch zu Hause hatte ich mehrere Abende mit puzzeln verbracht: Auf dem Weg von Norderney zur Ems liegen nämlich zwei Hochs: Bereiche, die bei Niedrigwasser trocken fallen und auch bei Hochwasser nicht so richtig tief sind. Beide Hochs muss ich bei auflaufendem Wasser passieren (nicht, dass ich wieder hängen bleibe und nicht mehr weg komme).
Das wäre sehr einfach. Wenn beide Hochs nahe beieinander liegen würden. Was aber nicht der Fall ist. Vielmehr sind sie ein paar Stunden voneinander entfernt. Daher ist puzzeln angesagt: Wann muss ich in Norderney los fahren damit ich unter Berücksichtigung von Strom (der teilweise gegenan, teilweise mit läuft) so beim ersten Hoch (im sogenannten Memmert Fahrwasser) ankomme, dass ich so gerade eben rüberrutsche? Und wie schnell muss ich dann – wieder wechselnden Strom berücksichtigt – fahren, damit ich noch eben vor Hochwasser beim zweiten Hoch bin?
Alte Watthasen werden schmunzeln und das alles im Gefühl haben. Ich bin aber Neuling. Und habe daher gepuzzelt und gerechnet und überlegt.
Drei Knoten. So langsam ist die JULIUS, als ich sie um die Ecke von Norderney in das Seegatt steuere. Ich muss ein kleines Stück in das Gatt fahren, um dann um eine Tonne herum in das Memmert Fahrwasser zu kommen. Wirklich nur ein kleines Stück, aber voll gegen das auflaufende Wasser.
Das Boot bockt ein wenig, stampft in den von See hereinlaufenden Wellen. Drei Knoten. Das ist echt langsam, und das doch so kleine Stück zieht sich gefühlt endlos. Hinter mir ist ein kleines Segelboot mit schwacher Maschine. Es fällt mehr und mehr zurück, sein Skipper muss sich noch mehr in Geduld üben.
Dann habe ich die Tonne passiert und kann den Kurs ändern. Die See trifft nun für ein paar Minuten seitlich auf die die JULIUS. Das Boot beginnt etwas zu rollen, ich mache kurz die Stabilisatoren an. Wir sind nun ein wenig schneller, werden aber mit Macht Richtung Watt und einer nahen Untiefe gedrückt. Ich muss ganz woanders hin steuern, um halbwegs auf Kurs zu bleiben.
Dann bin ich am Anfang des Fahrwassers und habe den Strom mit. Um die neun Knoten Fahrt macht das Boot. Und überholt damit den Zeitplan. So komme ich zu früh beim ersten Hoch an. Viel zu früh, locker 40 Minuten. Ich lasse die Maschine langsamer laufen.
Ernsthaft langsamer wird die Fahrt dadurch aber nicht. Ich kann mir grob vorstellen, wie es hier bei wirklich viel Wind gegen diesen mächtigen Strom aussehen muss: Zwei Meter Welle sind im Seegatt dann sicher nichts ungewöhnliches.
„Na, Herr Buß. Dann kommen wir wohl zu früh zum Hoch. Und bleiben vielleicht im Sand hängen…“
Sage ich zu mir selbst. Wenn das passiert wäre es aber nicht schlimm: Innerhalb von Minuten würde mich das steigende Wasser befreien.
Das erste Stück vom Memmert Fahrwasser ist wie üblich rot und grün betonnt. Dann aber gibt es keine Tonnen, sondern nur Pricken: Kleine Bäumchen, die in den Sand gesteckt wurden.
Ich passiere die letzte Tonne und tatsächlich sehe ich die Bäumchen. Es fühlt sich erstmal falsch an, dort zu fahren, wo Bäume aus dem Wasser ragen. Aber so läuft das hier, da muss ich mich dran gewöhnen.
Zwei Meter Wasser zeigt das Echolot. Das reicht locker, aber noch bin ich nicht beim Hoch, also bei der flachsten Stelle dieses Fahrwassers.
So langsam es die Strömung zulässt taste ich mich von Pricke zu Pricke und halte fünf bis zehn Meter Abstand zu den Markierungen. Hier im dicken Nebel oder bei Nacht zu navigieren ist sicher eine Herausforderung und eher etwas für Skipper mit viel Erfahrung.
Denn: nur nach der elektronischen Seekarte zu fahren reicht nicht. Der tiefe Bereich wird von der täglich laufenden Strömung häufig verändert. Und bis diese Änderungen sich als Update im Kartenmaterial widerspiegeln kann es Wochen oder sogar Monate dauern. Die Pricken sind das Maß der Dinge.
Einsachtzig. Es wird flacher. Und es ist noch ein gutes Stück bis zum Hoch.
„Oh Mann, ich bin bestimmt zu früh dran. Ich werde auflaufen und warten müssen.“
Die häufigen Änderungen des Fahrwassers werden auch der Grund sein, warum hier Pricken und keine Tonnen stehen: Ein kleines Bäumchen kann sehr einfach gezogen und an anderer Stelle wieder in den Sand gesteckt werden. Das verlegen einer Tonne ist da schon mehr Aufwand.
Einssiebzig. Zwanzig Zentimeter noch unter dem Kiel.
Der Strom hat deutlich abgenommen. Das auflaufende Wasser läuft auf beiden Seiten der Inseln durch die Seegatten in das Watt, dann um die Inseln herum jeweils bis zu einem Wattenhoch. In meinem Fall habe ich Juist querab, das Wasser läuft zwischen Norderney und Juist rein und mit mir auf das vor mir liegende Hoch zu. Auf der anderen Seite von Juist passiert das Gleiche, von dort läuft das Wasser also auf mich zu. Sobald ich das Hoch passiere wird sich der Strom also umdrehen und gegenan stehen.
Einssechzig.
Jetzt wird es eng. Zehn, vielleicht fünfzehn Zentimeter noch unter dem Boot. Einen Hauch mehr als die sprichwörtliche Handbreit.
Aber ich kann ja jetzt langsam fahren, das Wasser schiebt nur noch wenig. Die JULIUS macht noch um die vier Knoten, langsamer geht es nicht. Wenn ich so auf den Sand auflaufe wird es nur einen sanften Ruck geben. Innerlich stelle ich mich darauf ein.
Einssechzig.
Das Hoch liegt nun direkt vor mir, und die Tiefe ändert sich nicht. Sieht gut aus. Außer mir ist hier im Moment kein anderes Boot. Wenn ich also aufsitze, dann wenigstens für mich alleine.
Einsfünfzig.
Es wird doch noch spannend. Das Echolot zeigt bewusst eher zu wenig Tiefe an. Und mein Boot hat vielleicht auch etwas weniger als Einsfünfzig Tiefgang.
Einsfünfzig.
Die Anzeige hält sich. Laut Karte bin ich nun genau auf dem Hoch. Bei Niedrigwasser ist hier überall Sand. Ich fahre über Land. Seltsam fühlt sich das schon an.
Einssechzig. Einssiebzig.
Ich atme durch. Ich bin über das Hoch gerutscht, mit wenigen Zentimetern Wasser unter dem Kiel. Und vor dem Zeitplan. Das war spannend. Aber dafür habe ich jetzt etwas mehr Zeit, um zum zweiten Hoch „Osterems“ zu kommen.
Nach dem Memmert Fahrwasser wird der Törn deutlich entspannter: Es ist wenig Verkehr, immer wieder kann ich längere Zeit den Autopiloten steuern lassen. Nur das Wetter, das verschlechtert sich. Der Wind frischt auf, es fängt zu regnen an.
Der zweite kritische Punkt „Hoch Osterems“ ist völlig unkritisch: Ich bin deutlich vor Hochwasser da und passiere die Untiefe locker bei noch auflaufendem Wasser. Dann bin ich auf der Ems. Hier und da kommt etwas Berufsschifffahrt, andere Sportboote sehe ich gar nicht.
Eine Regenhusche nach der anderen zieht durch. Teilweise prasseln erstaunliche Mengen Wasser vom Himmel:
Es ist eine ruhige weitere Fahrt bis Emden. Dessen Hafen ist maßgeblich vom Autotransport geprägt. Schon bei der Ansteuerung sehe ich die ersten Autofrachter: Imposante, aber irgendwie unförmige Ungetüme. Ein wenig als würden da riesige Ziegelsteine erstaunlicherweise schwimmen.
Vor allem aus der Nähe ist der Anblick dieser Schiffe spektakulär. Die Crew auf der Brücke hat faktisch keine Sicht auf den direkten Bereich um das Schiff herum. Kleine Sportboote sollten immer respektvoll großen Abstand zu diesen Monstern halten.
Direkt vor einer großen Schleuse, die den Binnenhafen vom Tidengewässer abtrennt, mache ich in dem kleinen Yachthafen vom Emden Yachtclub fest. Hier wollten wir schon einmal liegen, als wir im März 2015 die JULIUS von Holland nach Hamburg überführt haben. Nur waren damals im Winter keine Stege da und wir mussten ein einem provisorischen Steiger einer Baustelle festmachen (die Geschichte kannst du hier lesen!).
Jetzt, im Sommer, ist der Hafen aber in Betrieb und ich mache erstmal an dem Ponton mit dem Vereinshäuschen fest.
Direkt schön ist es hier nicht: Mitten im Industriehafen. Die großen Autotransporter in unmittelbarer Nähe haben ständig Maschinen laufen und lassen nie wirklich Ruhe einkehren. Aber Hamburg ist von Emden aus sehr einfach mit der Bahn zu erreichen. Für eine Woche muss ich nun erstmal wieder nach Hause. Und dann komme ich mit meiner Familie zurück. Für den Start in den Urlaub.
Diese Geschichte spielt am 21. Juni 2019.
Prima Bericht.
Ich bin die Strecke vor zwei Jahren in die andere Richtung gefahren und habe bei schönem Wetter unterwegs geankert und gegrillt, während ich auf auflaufendes Wasser gewartet habe. War auch super und ist auch eine ganz tolle Strecke.
Ich fahre über Himmelfahrt Cuxhaven über Norderney nach Delfzijl.
Bitte poste noch mal wann Du ungefähr in Norderney losgefahren bist, bzw. was Du rückblickend für eine Zeit empfehlen würdest.
Danke!
LG
Jan
Am 20.6. um 10:00 bin ich los. Das müsste kurz nach einsetzen des auflaufenden Wassers gewesen sein, genau habe ich das jetzt nicht parat.
Vielen Dank!
Du bist 1 Std. 40 min. nach Niedrigwasser los. Werde ich dann auch so machen.
Moin Julian,
sehr interessanter Bericht! Als Binnen- und Ostseefahrer mit sehr wenig Watterfahrung ist das Thema Watt für mich immer wieder eine interessante und spannende Sache! Bisher beschränkt sich das bei uns auf Fahrten von und nach Holland auf der Ems. Und auch dort konnten wir das Thema Wind gegen Strom schon mal näher erleben 😉 Zu Zeiten, wo ich vom Bootfahren erst noch geträumt habe, waren wir mit den Kindern oft auf Juist und haben dort mit Wattführer Heino eine sogenannte Flutbeobachtung gemacht. Bei Vollmond standen wir bei Niedrigwasser auf der Juister Seite am Wattenhoch, durch das Du auch gefahren bist und haben in die trockene Rinne geschaut und dann zugeschaut, wie das Wasser auf der anderen Seite in einer 10cm hohen Flutwelle auf uns zu kam und dann das trockene Fahrwasser zügig aufgefüllt hat. Dann einen strammen Fussmarsch, das auflaufende Wasser immer an den Fersen bis zum Juister Hafen. Da habe ich einen ersten Eindruck gewonnen, welche Wassermassen hier in Bewegung sind und wie schnell das Wasser dann aufläuft. Ich bin gespannt, wo Ihr mit der Julius dann den Holland-Törn verbracht habt. Wir haben unser Boot damals auch in Holland gekauft und aus der Westerschelde binnen überführt. Den Winter 20/21 wollen wir unser Boot schon in Holland überwintern und dann im Frühjahr 21 auch Niederländische Watteninseln bereisen. Scheint mir zum Einstieg ins Wattfahren einfacher zu sein als die Deutschen Watteninseln. Neben Fahrten auf dem Ijisselmeer wollen wir dann mal nach Terschelling, da hat man keine Wattenhochs zu beachten, muss man also erst mal nur das Thema Strömung einkalkulieren. Das alleine ist ja auch schon eine Herausforderung für sich. Bin schon gespannt auf die nächsten Eurer Etappen.
Herzliche Grüße
Christian
Das mit der Flutbeobachtung finde ich sehr spannend! Ja, das wird in kurzer Zeit eine Menge Wasser bewegt 🙂
Die niederländischen Wattinseln will ich auch noch mal irgendwann sehen. Die deutschen Inseln Norderney und Borkum waren für meinen Geschmack nichts.
Hallo Julian!
Das hat ja prima geklappt! Gratuliere!
Da ich für die nächste Saison auch eine Wattfahrt ins Auge gefasst habe, würde mich noch interessieren:
1) Bist du allein gefahren? Also Ausguck und Rudergänger in einer Person?
2) Wie lange hast du für die Strecke gebraucht? Oder, falls möglich, etwas genauer:
3) Zeitangaben: Abfahrt Norderney, Wattenhoch 1, Wattenhoch 2, Ankunft Emden Seeschleuse
Danke für Deinen Bericht!
LG
Volker (Der Puuh)
Hallo Volker,
ich bin am 20.6. um 10:00 Uhr von Norderney losgefahren und um 16:30 in Emden angekommen. Wann ich genau wo war kann ich jetzt von zu Hause aus nicht ermitteln, die Daten müsste ich aber haben und werde sie dann auf diesem Wege nachreichen.
Ja, ich war – bis auf meinen Hund – alleine. Das war auch kein Problem, die Pricken waren deutlich zu erkennen und standen dicht beieinander. Übrigens hat auch das Radar (das ich ja immer mitlaufen habe) die Pricken (schwach) gesehen.
Hi Julian,
As always great storytelling! And … it’s getting better and better every time.
Cheers from Arjen and Marjan, Friesland
Hi Arjen,
thank you very much for the kind words! I’m flattered that you’re reading my stories 🙂 I hope you are well!
All the best!
Hallo Julian!
Vielen Dank! Habe mir inzwischen den Sportschiffer-Führer „Nordseeküste“ von Jan Werner besorgt. Da drin stehen die Wassertiefen für verschiedene Wattenhochs in Stunden vor/nach HW. Das Buch ist zwar schon etwas älter, aber vom Prinzip her noch gut zu gebrauchen. Werd‘ ich mich mal schlau machen.
Radar habe ich zwar nicht, aber noch gute Augen und ein Fernglas! 😉