Das Schiffshorn tutet. Lang, laut und wütend. Wir sind eben in den Nord-Ostsee-Kanal eingefahren, haben die großen Schleusen von Kiel-Holtenau verlassen. Wie schon häufig wurden ein paar Sportboote zusammen mit einem Berufsschiff geschleust.
Der Dampfer in der Schleuse war schon ein ordentlicher Brocken. Einer der Sorte, denen man niemals zu nahe kommen darf, schon gar nicht im engen Kanal. So ein großes Schiff kann schlicht nicht anhalten, oder ausweichen, selbst wenn der Schiffsführer das will. Und wenn die Crew auf dessen Brücke ein kleines Sportboot überhaupt sieht: Durch hoch gestapelte Container sind die toten Winkel nämlich beeindruckend groß.
Beim Hafenmeister in Damp lagen letztens Broschüren aus, ich glaube sie waren von der Wasserschutzpolizei. Ein Beitrag dort hat versucht, die Lage der Leute auf der Brücke von so einem Dampfer zu verdeutlichen: Fotos von dort oben, und eingekreist irgendwo die Mastspitze eines Seglers. Oder die Schemen eines Motorbootes, das denkt, es wäre doch wohl gut zu sehen, von der Brücke aber selbst bei gutem Wetter kaum auszumachen ist.
Ich empfand die Fotos als sehr interessant, und sie haben mich in meiner Strategie mehr als bestätigt:
„Bleib weg von großen Dampfern. Und fahre nie, nie, niemals vor deren Bug herum.“
Wieder das kräftige Horn. Kurz bin ich irritiert: Meint jemand mich? Mache ich etwas falsch? Ich schaue nach achtern: Nein, der Container-Feeder aus der Schleuse ist noch weit weg und nimmt erst Fahrt auf. Außerdem bin ich brav eng am rechten Ufer des Kanals.
„Scheiße.“
Denke ich, nachdem ich mich umgedreht und noch mal genauer voraus geschaut habe.
„F…, das gibts doch nicht…“
Ich kneife noch mal die Augen zu, schüttel den Kopf, als ob ich eben nur eine Halluzination gesehen hätte und sie so abschütteln könnte. Völlig ungläubig sehe ich aber anschließend immer noch das, was ich auch vorher gesehen habe:
Vor mir kommen unter der Levensauer Hochbrücke zwei Schiffe nacheinander um die Kurve. Der Erste: Ein Container-Feeder, noch etwas größer als das Exemplar, mit dem wir geschleust wurden. Danach ein Tankschiff in der typisch warnenden, roten Farbe.
Und vor dem ersten Dampfer ein Segelboot, das Großsegel gesetzt, mitten im Kanal. Ich peile von dem Mast des Seglers zum Bug des Dampfers.
„Direkter Kollisionskurs!“
sage ich zu mir selbst. Ich spüre einen Schub Adrenalin, in der Brust wird es eng, ich spanne alle möglichen Muskeln an. Als ob das für die Situation einen Unterschied machen würde, aber manche Sachen passieren ja einfach unbewusst.
„Okay Kollege, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um dreimal Wahnsinnige voraus zu geben und sich vom Acker zu machen!“
Denke ich, während ich die kaum zu fassende Szenerie weiter beobachte.
Doch es passiert: Nichts.
Der Segler rührt sich nicht. Er scheint mit einem Segelmanöver beschäftigt zu sein. Kann man so ein Horn nicht hören? Kann man derart mit sich selbst beschäftigt sein?
In aller Ruhe dümpelt das Segelboot weiter. Mitten im Fahrwasser. Der Bug des Containerschiffs ragt aus meiner Perspektive schon fast über den Mast des Seglers. Das mächtige Horn tutet noch mal lang. Und dann mehrfach kurz.
Noch mal länger. Noch ein paar Mal kurz. Wenn ein Schiffshorn Panik ausdrücken soll, dann hört es sich genau so an. Die Crew auf der Brücke wird langsam schweißnasse Hände bekommen. Die sehen vermutlich nur noch, wie eine Mastspitze vor ihrem Bug auf der Stelle steht, statt sich irgendwie weg zu bewegen.
„Der muss ein Problem mit der Maschine haben. Oder welchen anderen Grund kann es geben, so mit seinem Leben zu spielen?“
Die Situation ist mittlerweile nur noch ein paar hundert Meter vor mir. Ich habe Fahrt weg genommen. Mir schießen die Bilder von dem alten Lotsenschoner, das erst vor ein paar Tagen auf der Elbe einen verhängnisvollen Fehler begangen hat, und von einem großen Schiff überfahren und in Sekunden versenkt wurde, in den Kopf.
Der Segler bewegt sich immer noch nicht. Immer bedrohlicher kommt der riesige Bug auf das kleine Boot zu. Ich stelle mir vor, wie der Schiffsführer auf der Brücke mit weißgewordenen Knöcheln auf den Knopf des Horns drückt und betet, dass noch ein Wunder passieren möge.
Er kann sonst nichts tun. Maschinen voll zurück? Bis so eine Maschine überhaupt rückwärts läuft, ist es schon zu spät. Ausweichen? Wohin denn? Selbst wenn er das Schiff auf das Ufer setzen würde – auch das würde zu spät passieren. Und was ist mit dem Tanker, der direkt hinter ihm ist? Eine Kollision zwischen den beiden Großen wäre unvermeidlich.
„Das geht schief. Oh Mann, das geht wirklich schief…“
In meinem Kopf spielt sich das Unglück bereits ab: Der große Dampfer wird das kleine Segelboot nicht einfach rammen, der Segler wird vielmehr in Sekunden unter Wasser gedrückt werden. Der Bugwulst wird die zerbrechliche Kunststoffhülle zerfetzen, so dass nur noch die Hälfte davon übrig ist. Vielleicht hat sie dann noch genug Auftrieb, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Vielleicht aber auch nicht. Was dabei mit der Besatzung passiert, dafür reicht meine Vorstellungskraft nicht aus.
Und ich bin das nächste Boot. Ich müsste sofort hin, um zu helfen. Helfen? Wie denn? Wem denn? Ist dann noch jemand da, dem man helfen kann?
Jetzt passiert etwas. Zwischen dem Mast des Seglers und dem Bug des Dampfers ist keine gerade Linie mehr. Er bewegt sich zum gegenüberliegenden Ufer. Immer noch langsam. Viel zu langsam. Wie weit sind beide noch voneinander entfernt? Das sieht schon so verdammt eng aus. Sind es noch 100 Meter? Dann wären vielleicht noch 20, 25 Sekunden Zeit.
Wird er schneller, der Segler? Schafft er es?
„Du Wahnsinniger, kannst du jetzt mal bitte voll voraus geben und dein Leben retten?!?“
Mich hört nur mein Hund Ole. Er steht neben mir und merkt genau, das irgendetwas nicht stimmt, dass ich sehr, sehr angespannt bin. Ich schaue kurz nach unten, Ole blickt mich mit seinen treuen Hundeaugen an, etwas verunsichert, als wollte er mich fragen: „Alles gut bei dir?“
Meinen Blick wandert wieder auf die Situation vor mir. Sie hat sich verändert: Im wohl letztmöglichen Moment ist der Skipper des Segelboots aufgewacht und hat endlich etwas richtig gemacht. Nur noch sein Heck liegt vor der anrollenden Stahlwand.
„Er schafft es!“
rufe ich laut. Und ja, der Segler schafft es tatsächlich. Nun ist er nahe am anderen Ufer, tuckert dort langsam und unentschlossen. Eine Sekunde später sehe ich ihn nicht mehr, das Container Schiff ist nun auf gleicher Höhe, fährt vorbei. Ohne Kollision. Ohne Versenkung. Ohne Knall. Ohne Unglück.
Ich atme tief ein und aus.
Für Erleichterung und Reflektion ist jetzt aber noch keine Zeit. Nun bin ich fast auf gleicher Höhe, ich nehme wieder Fahrt auf, um Ruderwirkung zu haben wenn ich dem Dampfer begegne.
Als sein Heck vorbei ist, liegt das Segelboot fast parallel zu mir an dem gegenüberliegenden Ufer. Es hat wieder keine Fahrt und riskiert damit, durch Sog erneut dem Containerschiff zu nahe zu kommen.
„Bist du völlig wahnsinnig? Du hast mit deinem Leben gespielt!“
Ein Mann, vermutlich der Lotse, steht auf der Nock, einem seitlichen Teil der Brücke, im Freien und brüllt den Mann auf dem Segelboot aus Leibeskräften an. Ich verstehe nicht alles, kann mir aber denken, was da so ungefähr verlautbart wird. Niemand kann es ihm verdenken, wie können Menschen auf ihrem kleinen Sportboot nur derart mit ihrem Leben spielen?
Denn ein Maschinenproblem scheint es nicht gewesen zu sein, jetzt läuft sie ja offensichtlich. Und selbst wenn: Warum hat er sich in der Mitte des Kanals aufgehalten?
Der Segler dreht jetzt, fährt erstaunlich dicht am Heck des Dampfers vorbei und – höre ich das wirklich oder bilde ich mir das ein? – brüllt zurück:
„Idiot! Kannst du nicht aufpassen?!? Du hast mich doch gesehen!“
und so weiter. Nein, ich habe mir das nicht eingebildet. Der Mann auf dem Segelboot hat allen ernstes zurückgeschrien und der Crew auf dem Containerschiff vorgeworfen, nicht aufgepasst zu haben. Einen derartige Verkennung der Realitäten habe ich noch nicht erlebt.
„Offensichtlich ein gefährlicher Mensch. Schnell weg.“
Denke ich und gebe mehr Gas.
– Fortsetzung folgt –
Diese Geschichte spielt am 14. Juni 2019.
Anmerkung: Diese Geschichte hat sich genau so zugetragen. Die Beschimpfungen der Kontrahenten habe ich sinngemäß wiedergegeben.
Und: Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Es geht bemerkenswert weiter – hier im nächsten Teil!
Hallo Julian,
Das ist kein Einzelfall, ich erlebe das auf den niederländischen Kanälen leider öfter. Bei vielen Seglern scheint als einziges aus der Ausbildung haften geblieben zu sein “ ich habe immer Vorfahrt“. Mal ab und zu sich nach achtern umschauen haben viele offensichtlich nicht gelernt. Und Kursbestimmung und Peilung können in Zeiten von Tablet und Plotter wohl auch nur wenige.
Joachim Seitz
Oha. Das wird noch spannend was da abgeht.
Auf der Maas kommt mir in der Dunkelheit in einer Rechtskurve ein 110 m langer Containerdamper entgegen. Da machst du nichts außer ein blödes Gesicht. Meine 30 Tonnen hebt man nicht mal ans Ufer. Wir konnte mit unseren 8 Km/h auch nicht wirklich ausweichen. Also ist das Ding in uns rein. Aussage Kapitän, er hat mit uns nicht gerechnet. Toplicht nach unten geklappt, Radar aus und auf AIS nur einen hinteres Schiff registriert. Routine macht halt auch leichtsinnig. Zum Glück ist außer ein riesen Blechschaden nichts passiert. Das hätte auch richtig ins Auge gehen können.
Oha, das ist eine schauerliche Story. Schön, dass Euch nichts passiert ist dabei.
Bisher habe ich ja nur einen AIS Empfänger, keinen Transponder. Sollten wir mal auf solchen Flüssen unterwegs sein, würde ich das spätestens ändern. Auch wenn das in Eurem Fall wohl keinen Unterschied gemacht hat, grundsätzlich würde das die Sicherheit in so einem Revier aber wohl nachhaltig verbessern.
Auf See kann man die Großen ja immer rechtzeitig selbst sehen und weiträumig ausweichen.
Segeln ist im NOK doch sicher verboten. Der einzige Grund trotzdem die Segel hochzuziehen wäre also doch ein (vorübergehendes) Motorproblem. Warte gespannt auf die Auflösung.
Segeln ist klar verboten, Motorsegeln aber erlaubt. D.h. die Maschine muss als wesentlicher Antrieb laufen, Segel nur zur Unterstützung. Macht aber in der Praxis nur bedingt Sinn bei den ganzen Kurven, ich sehe fast alle Segler nur unter Motor.