Wir kamen noch komfortabel über den Eingang zum kleinen Belt: Am Tag nach dem Gewitter in der Dyvig (vorherige Geschichte: Licht nach dem Gewitter.) wehte es vormittags noch mäßig, später wurde es deutlich windiger. Von Årøsund bis nach Middlefart erstreckt sich ein zauberhaftes Revier mit versteckten Perlen, an denen wir all die Jahre bisher eher achtlos vorbeigefahren sind. Warum eigentlich?
Es lockten immer die entfernten Ziele, die großen Schläge. Der kleine Belt ist einfach zu Nahe der Heimat. Jetzt aber, mit vier Wochen Zeit und der Unmöglichkeit, weite Ziele zu erreichen, konnten wir hier auch einmal halt machen.
Umstände ändern sich, das ist ein zentraler Bestandteil des Lebens. Der Trick ist, anpassungsfähig zu bleiben und neue Chancen zu erkennen. Uns haben die Umstände nun zur Insel Fænø geführt, gegenüber von Middelfart. wo der Anker irgendwann am Nachmittag fiel.
Eben noch pustete uns ein mittlerweile ziemlich strammer und kalter Südwest um die Ohren. Nun lagen wir ganz nahe am Ufer, ein kleines Stück Wald fast zum greifen nahe. Es war völlig windstill hier, die gefühlte Temperatur stieg sprunghaft auf die Ahnung eines lauen Sommerabends an.
Fænø ist an dieser Seite flach, steigt zum nördlichen Ende hin etwas an, weiter hinten sahen wir eine Steilküste. Waldstücke sind von Wiesen und Wegen unterbrochen, in wenigen Metern ist ein kleines Stück Strand. Schilf säumt das Ufer direkt neben uns, unmittelbar bevor die großen, kräftigen Bäume stehen und uns den Wind vom Leibe hielten. Keine Häuser, keine Autos unterbrechen die Natur, die einerseits echt und ursprünglich, andererseits aber auch gepflegt und zugänglich ist.
Es war: Eine Idylle. Und wunderschön. Mich nahm dieser Anblick gefangen, ich verliebte mich augenblicklich in diesen Ort.
„Ist das schön hier!“
rief ich aus, auf dem Achterdeck stehend und zum Ufer schauend. Der Tender war schon klar, die erste Hunderunde stand an.
„Wer will mit spazieren gehen? Durch den Wald da geht ein Weg, den können wir bestimmt ein gutes Stück gehen.“
„Ja nee, geht ihr mal alleine… wir kommen nachher mit und gucken uns Middlefart an…“
Teens und Erwachsene haben einfach unterschiedliche Sichten der Dinge. Die Schönheit der Natur ist da noch weniger interessant als ein neuer Ort.
Ich stieg in den Tender, der mittschiffs neben der JULIUS lag. Dort ist eine Öffnung in der Reling zum leichteren ein- und aussteigen, genau dort stellte sich Ole hin, schaute mich erwartungsvoll an und wartete, bis ich ihn hochgehoben und im Tender wieder abgesetzt hatte. Ich lächle jedes Mal, wenn er das macht: Manchmal ist er schlau wie hier, wo er genau wusste, was er machen sollte. Und manchmal… nicht, wenn er beispielsweise beim Verstecken spielen ein Leckerli nicht findet, nur weil es etwas höher als sein Kopf platziert ist.
Der Tender setzte sanft auf den Strand auf. Ole stellte sich auf das Dreieck am Bug, die Rute aufgeregt wedelnd. Er guckte mich an, ich nickte, und schon machte der Hund einen Sprung auf den Sand. Nicht so elegant wie eine Katze, aber besser, als ich es gekonnt hätte. Steffi und ich stiegen auch aus, zogen das Boot weiter auf den Strand und orientierten uns.
Linkerhand lief der Strand in einem Schilfgürtel aus, da war kein durchkommen. Vor uns waren dichte Bäume und Gestrüpp, aber vielleicht zweihundert Meter weiter nach rechts gab es eine Lücke im Wald und der Forstweg war sichtbar. Wir gingen los, während Ole noch aufgeregt im Sand schnüffelte, mal hier, mal dort. Erst Minuten später vermisste er uns, schaute auf, sprintete los und rannte uns mit flatternden Ohren hinterher.
„Ah, Guten Tag der Herr, da bist du ja!“
sagte ich zu ihm, als er da war, was er mit freudigem Wedeln quittierte, nur um Sekunden später wieder mit dem Schnüffeln anzufangen.
Am Forstweg angekommen verliessen wir das Stück Strand. Der Weg führte dicht am Ufer entlang und war an beiden Seiten mit großen, alten Bäumen gesäumt. Dazwischen war kaum Unterholz, so dass wir stets zwischen den Stämmen das Wasser sehen konnten. Es roch gut nach Holz und Nadeln, gemischt mit etwas Salz vom der See, das durch den kräftigen Wind in die Luft getragen wurde. Wir waren mittlerweile an der Luvseite der Inseln, die Blätter rauschten, wir hörten die Wellen am Ufer brechen.
Wir trafen keine anderen Menschen, obwohl drei, vier andere Boote neben uns in der Bucht lagen und es irgendwo weiter nördlich wohl ein paar Häuser gibt. Und wir erlebten etwas anderes, sehr seltenes: Während des ganzen Spaziergangs hörten wir keine Zivilisationsgeräusche. Kein Rauschen von Autos auf einer entfernten Straße. Kein Flugzeug hoch über uns. Kein Traktor, der Feldarbeit verrichtet. Kein einziges, vom Menschen gemachtes Geräusch abseits unserer eigenen Schritte.
Zurück an Bord warteten die Kinder schon auf uns. Wir wollten noch rüber in den Yachthafen, der an den Ausläufern Middelfarts liegt. Hier scheint es nur Wohngebiete zu geben, der Ortskern ist wohl bei dem anderen Hafen, dem Ny Havn, der aber ein deutliches Stück weiter weg um eine Landspitze herum liegt.
„Ob das wohl wirklich eine gute Idee ist, bei dem Wind mit dem Tender rüber auf die andere Seite zu fahren…?“
Leo hatte Zweifel, ob wir trocken hin- und zurückkommen.
„Naja, hin wird es wohl kein Problem sein, da kommt der Wind von achtern. Und zurück… wir werden es sehen, denke ich.“
Vor ein paar Wochen hatten wir in der Schlei geankert, gegenüber von Maasholm, da, wo das alte Bauernhaus steht. Es war richtig windig und die ganze Familie mit Hund ist mal eben mit dem Tender nach Maasholm rübergefahren. Hin war kein Problem, zurück blies der Wind genau gegen an und hatte in der eigentlich total geschützten Schlei eine erstaunliche Welle aufgebaut. Schon nach der Ausfahrt aus dem Hafen platschte das Boot auf eine Welle, die sich dann nach oben und durch den Wind auf uns verteilt hatte. Sofort waren wir alle komplett nass. So blieb es, egal wie langsam wir fuhren, eine Ladung Schleiwasser nach der anderen kam über, kein Stück Kleidung blieb trocken. Mein Sohn schien hier ein Déjà-vu zu fürchten.
„Komm, ist doch egal, Wenn wir auf dem Rückweg nass werden, können wir uns an Bord ja wieder umziehen. Außerdem können wir uns vom Hafen aus erstmal etwas nördlich halten und müssten dann voll im Landschutz der Insel sein.“
„Wie du meinst. Ich sage, wir werden nass.“
Unterwegs zum Yachthafen kamen wir aus der Landabdeckung von Fænø und merkten, wie stark der Wind mittlerweile geworden war. Er fegte aus Südwest direkt zwischen Fænø und der Nachbarinsel hindurch in Richtung Hafen. Kleine, aber steile Wellen hebten und senkten unser Beiboot, bis wir hinter der Mole waren. Alle blieben trocken und gut gelaunt.
Wie gedacht ist die Umgebung des Yachthafens nur geprägt von Wohnvierteln. Der eigentliche Ort ist weiter nördlich. Wir liefen ein wenig hier und dort herum, gingen einen schönen Spazierweg am Ufer entlang mit Blick auf Fænø und den Ankerplatz, wo die JULIUS lag. Ole konnte sich an dem Tag nicht über zu wenig Auslauf beschweren.
Vorbeigehend an einem großen, alten Gebäude mit weiten Rasenflächen sahen wir einen kleinen Rasenmähroboter, der stoisch und zielstrebig seine Bahnen zog. Bewusst hatte unser Hund so ein Ding noch nie wahrgenommen: Als der Roboter kurz stehenblieb, ging Ole etwas näher an ihn heran, schnuppernd, den Kopf etwas gesenkt, sehr skeptisch. Dann fuhr der Mäher wieder an, direkt auf den Hund zu. Das ist nichts für ihn, laut bellend machte er kehrt und lief in den Schutz seiner Familie. Nein, der Mutigste ist unser Bordhund nicht.
Zurück am Tender übernahm meine Tochter wieder das Steuer, der Kurs ging in die schon tief stehende Sonne. Sie sah nichts, ich lieh ihr meine Sonnenbrille, die ihr natürlich zu groß war. Trotzdem sah sie cool aus, so stehend an der Steuerkonsole, dem Wind trotzend, lässig die Familie durch das aufgewühlte Wasser zurück zum Mutterschiff fahrend.
„Ich habe es euch gesagt.“
Ja, der Sohn hatte natürlich Recht. Die Rückfahrt ging zumindest schräg gegen Wind und Welle. Es wurden aber zumindest nicht alle nass. Nur die, die auf der Wind zugewandten Seite saßen. Leo gehörte natürlich nicht dazu, er hatte sich den besten Spot ausgesucht und kam trocken an. Ich wurde nass, Steffi auch – was allerdings völlig unerheblich war. An der JULIUS angekommen waren wir wieder völlig vor dem Wind geschützt, es war einigermaßen warm und die trockene Kleidung wartete im Schrank.
Die Sonne blieb uns noch den Abend über erhalten. Wir aßen auf dem Achterdeck und nahmen dort noch den einen oder anderen Sundowner.
„Dass es im Kleinen Belt so schön sein kann!“
sagte ich, nachdem ich wieder einmal den Blick von Fænø, über das Wasser und am Ufer Middelfarts vorbei habe streichen lassen: Sattes grün, Wälder, leicht hügelige Landschaft, hier und da ein Stück Steilküste, das in dunkelblauem Wasser endet. In warmen Tönen von der Abendsonne beleuchtet war dieser Anblick ein Kandidat für ein Ölgemälde.
Orte dieser Reise, von denen ich bisher erzählt habe:
Diese Geschichte spielt im Sommer 2020. Fortsetzung hier: Er hört einfach nicht auf.