Es war die letzte Möglichkeit. Um zehn Uhr war Niedrigwasser, wir wollten eigentlich schon seit einer halben Stunde unterwegs sein, nach Glückstadt, zurück in Richtung Hamburg. Die Chance war gering, aber groß genug, um noch einen Augenblick in Helgoland liegen zu bleiben und es zu versuchen.
„Und, hast du ihn…?“
frage ich Oliver erwartungsvoll, als er wieder zum Schiff kommt, den großen, mit dem langen Bootshaken verlängerten Kescher in der Hand.
„Nein, leider nicht.“
kam die enttäuschte Antwort. Schade. Den verlorenen Tankdeckel werde ich nicht mehr wieder sehen: Er war gestern in der nassen Kälte aus der Hand geflutscht und über Bord gegangen. Bei Niedrigwasser soll es am Tanksteiger nur noch um die 1,5m tief sein, das Wasser ist dort sehr klar: Und tatsächlich hat mein Bruder den Deckel heute noch gesehen und fast in den Kescher eingesackt. Aber eben nur fast.
„Egal. Lass uns los!“
Die Maschine lief schon, die Tide wartet nicht auf uns. Anstelle des Deckels hatte ich einen Klumpen der Leak-Hero-Dichtmasse (Amazon Link) geformt und auf die Tanköffnung gedrückt, das ist dicht und hält erstmal. Eigentlich hätte der Wind um diese Zeit fast einschlafen sollen, aber das Auge des aktuellen Tiefs wanderte sehr schnell über Helgoland hinweg und nun blies es wieder mit fünf bis sechs Windstärken.
Wir fahren zügig aus dem Schutz des Südhafens heraus und treffen gleich auf eine beachtliche Welle, die mit Macht seitlich auf die JULIUS trifft und Gischt bis hoch zum Verdeck schickt.
„Mannomann, was ist das denn…?“
fragt Oliver. Ich zucke mit den Schultern und schalte die Stabilisatoren auf Stufe 1. Das Boot wird daraufhin etwas ruhiger, das Rollen gedämpft.
Kurz hinter Helgoland ändern wir den Kurs, die Welle nimmt ein klein wenig ab. Das Boot rollt spürbar, aber die Bewegung ist durch die Stabis gedämpft und viel angenehmer als gestern auf der Hinfahrt, wo ich seekrank wurde. Seegang sieht auf Videos fast immer niedlich und entspannt aus, so auch hier:
(Meine Aussage im Video über „Zwei Meter Welle“ entstand unter dem Eindruck der Situation direkt nach dem Auslaufen.)
Es bleibt erstmal eine für diese Verhältnisse angenehme Fahrt. Segelboote fühlen sich gerade bei seitlicher See üblicherweise viel angenehmer an als Motorboote: Sie haben Druck im Segel, der das Boot am Rollen hindert. Doch ich stelle fest, dass ein Rundspant-Rumpf wie bei der JULIUS die Rollbewegung sanft gestaltet und die aktive Stabilisierung macht wirklich einen Unterschied. Bei Wind 5-6 auf der Nordsee und seitlichen Wellen unterwegs sein zu können, ohne dass es sich übermäßig unangenehm anfühlt – damit bin ich sehr zufrieden.
„Hunger?“
frage ich nach oben zum Steuerstand, nachdem ich die Reste von gestern Abend inspiziert habe.
„Och, ja, eigentlich schon… was haben wir denn?“
„Es ist noch ordentlich Labskaus übrig!“
„Das klingt sehr gut!“
Mittlerweile sind wir auf Höhe von Scharhörn, hier ist es geschützt, die See ist ruhig. „Der Drops ist gelutscht, die Schaukelei haben wir hinter uns“ denke ich, richte die Reste des Seefahrergerichts auf zwei Tellern an und packe sie nacheinander in die Mikrowelle. Bordhund Ole steht vor der Treppe zur Pantry und schaut interessiert und erwartungsvoll zu. Er hat eben erst eine ordentliche Portion zu fressen bekommen, was sich optisch nicht mal allzusehr von unserem Labskaus unterschieden hat. Trotzdem kann er dem Geruch von Corned Beef und Kartoffeln nicht widerstehen und hofft, etwas abzubekommen. Allerdings vergeblich.
„Saugeil.“
höre ich mich sagen, als wir wenig später mit zwei heißen, dampfenden Tellern vor uns am Außensteuerstand stehen. Die Luft hat vier Grad, die Sonne ist weg, es ist grau und nieselt. Und dann dieses Essen! Wer sagt, Seefahrt im November kann kein Genuss sein?
Oliver verzieht sich nach dem Essen in den Salon, wärmt sich auf und döst etwas. Das Wetter verschlechtert sich, der Wind dreht etwas und weht nun genau aus der Elbe heraus – und damit gegen den Strom. Aus dem Niesel ist Regen geworden, einige Schaumkronen zieren die Welle, die nun gegenan steht, aber harmlos ist.
„What the….?“ frage ich mich selbst, als sich direkt bei Cuxhaven ein Bergmassiv aus Stahl vom Kai löst und von zwei Schleppern in Richtung Fahrwasser gezogen wird. Was passiert nun? Dreht dieser riesige, fast rechteckige, schwarze Metallblock? Nimmt er Fahrt auf? An welcher Seite soll ich vorbei?
Ich verlangsame die Fahrt und stelle den Autopiloten ab, um besser reagieren zu können. Tatsächlich wird das RoRo-Schiff jetzt gedreht, bei dem Wind sicher keine leichte Aufgabe. In Richtung Land ist wenig Platz, ich weiche in Richtung Fahrwasser aus und nehme wieder Fahrt auf, um gut frei zu kommen. Voraus sind zwei Entgegenkommer, aber hier ist genug Platz. So ist die Situation schnell geklärt und ich lasse die Ruderanlage wieder alleine weiter machen.
Vor Brunsbüttel stelle ich fest, dass der Drops doch noch nicht ganz gelutscht ist: Hier ist die entgegenkommende Welle deutlich höher und steiler. Das Schiff stampft ordentlich, Gischt spritzt über das Vordeck.
Dieser Bereich der Außenelbe ist bekannt für unangenehmen Seegang, wenn kräftiger Wind gegen die Strömung steht. Wir verholen uns auf die nördliche Seite des Fahrwassers. Hier fahren wir nun auf der falschen Seite und müssen uns daher außerhalb des Tonnenstrichs halten, dafür ist es geschützter und die JULIUS fährt wieder ganz ruhig.
„So, jetzt wird es noch mal interessant.“
„Mmmmh….?“
„Gleich ist das Licht aus, wir müssen im Dunkeln den restlichen Weg bis Glückstadt fahren, und hier sind eine Menge unbeleuchteter Hindernisse im Wasser.“
In der Nacht war ich schon häufiger unterwegs, aber nur auf der Ostsee. Da ist viel Platz und nur wenige Tonnen und noch weniger Schiffe. Hier sind viele Schiffe, eine Menge Tonnen, von denen nur die großen Fahrwassertonnen befeuert sind, allerdings nicht alle. Dann gibt es kleinere Tonnen als Begrenzung zum flachen Wasser vor dem Land, ein massives Betonhindernis vor dem Kraftwerk Brokdorf, viele kleine Tonnen in der Mündung der Stör, und diverse Lichter an Land neben den Richt- und Leuchtfeuern für die Navigation. Eine spannende Premiere für mich genauso wie für meinen Bruder.
„Sieht nicht viel anders aus als ein Ultraschallbild eines Babybauchs…“
kommentiert Oliver das Bild des Radars. Gut, dass ich schon so oft bei Tag und guter Sicht mit dem Radar geübt habe, ich kann aus der Darstellung mehr erkennen als einen Schneemann im Schneesturm. Zusammen lotsen wir uns durch die Dunkelheit. Mein Bruder achtet konzentriert auf die Seekarte und sagt Kennungen von Tonnen und Feuern an. Ich versuche diese Lichtzeichen in der Realität zu finden und behalte gleichzeitig all die nicht befeuerten Hindernisse auf dem Radar im Blick.
Es ist spannend. Tonnen ziehen für unsere Augen unsichtbar wenige Meter entfernt an uns vorüber, nur dank der exakten elektronischen Seekarte (primär NV Charts in Coastal Explorer und Navionics im Raymarine Plotter als zweite Quelle) und dem Radar wissen wir, wo sie sind. Ein Rest Unsicherheit bleibt aber natürlich: Entgeht dem Radar ein Hindernis? Ist das GPS genau genug? Ist eine Tonne hinzugekommen, die noch nicht in der Seekarte verzeichnet ist?
Nach passieren des Fähranlegers Glückstadt-Wischhafen weicht die Anspannung. Wir haben gut navigiert und sind sicher nach Glückstadt gekommen, acht erlebnisreiche Stunden liegen hinter uns. Oliver und ich verabschieden uns, er steigt in sein Auto und fährt nach Hause. Ich gehe eine lange Runde mit Ole, das hat er sich verdient.
Diese Geschichte spielt am 6. November 2016.
Super geschrieben und beneidenswert. Danke für diese Saisonabschuss. Auch im Winter immer eine handbreit unterm Kiel, besonders aber einen Finger tief guten Wein im Glas.
Danke, Thomas.
Einen (kürzeren) Teil habe ich noch in der Queue, aber dann war’s dass für dieses Jahr mit fahren wohl tatsächlich. Mal sehen, was der Januar oder Februar bringt 🙂
Hallo Julian,
Immer wieder toll zu lesen und meine Sehnsucht zum Felsen wächst wieder. Wir wollen unbedingt mal zu Silvester nach Helgoland auf eigen Kiel, aber die Emotion liegt ja in der Halle. Also weiterträumen…..
Sylvester nach Helgoland… witzige Idee eigentlich 🙂
Die nächste Saison kommt bestimmt! Bis dahin hält man sich mit Geschichten von Bloggern über Wasser 😀
Nun hast du die 2 m aus dem Video ja im Text relativiert, was denkst du denn was es tatsächlich war? Es stimmt schon, auf dem Video sieht es weniger aus als „in echt“, das habe ich selbst gemerkt. Trotzdem kann man gut erkennen, dass da gerade keiner zum Sonnenbaden rausfährt …
direkt bei Helgoland waren da 2m Wellen dabei, da bin ich sicher. Danach werden es um die 1,5m gewesen sein – aber relativ lang, deswegen sieht man das auf dem Video auch nicht so.
Sehr schöne Berichte!
Und es hilft mir. Nach 40 Segeljahren bin ich auf eine Motoryacht umgestiegen.
Das braucht eine gewisse Zeit.
Danke!
Ja, der Umstieg bedeutet auch Umgewöhnung. Aber jede Bootsart hat ihre Vor- und Nachteile 🙂